Nachhaltiger Textilkonsum: Die Krise als Chance

Nachhaltiger Textilkonsum: Die Krise als Chance

Der Stau reicht von Flensburg bis Innsbruck, 62.000 Lastwagen stehen Stoßstange an Stoßstange. Beladen sind sie alle mit den Altkleidern aus Deutschland, die innerhalb eines Jahres anfallen. Und der Stau wird von Jahr zu Jahr länger.
Denn der Absatz von Kleidungsstücken steigt steil an. Allein in den ersten 15 Jahren dieses Jahrtausends haben sich die Bekleidungskäufe verdoppelt. Gleichzeitig werden dagegen die Male von Jahr zu Jahr weniger, die ein Kleidungsstück dann getragen wird. Derzeit bedeutet das: Jede*r Deutsche kauft im Durchschnitt 60 neue Kleidungsstücke pro Jahr, trägt sie jedoch nur noch halb so lang wie vor 15 Jahren. Wir können uns das leisten, denn die Preise für Kleidung waren hierzulande seit jeher niedriger als in vielen anderen Ländern. Verglichen mit den Ausgabensteigerungen bei anderen Konsumprodukten werden Textilien sogar stetig günstiger: Nur 0,1 Prozent geben wir jedes Jahr mehr für Kleidung aus, obwohl die Umsätze der Modeindustrie in Deutschland jährlich um 2,3 Prozent steigen. Insgesamt wenden wir gerade einmal 4 Prozent unseres Einkommens wir für unsere Kleidung auf, aber zum Beispiel 14 Prozent für unsere Mobilität. (vgl. CIR)

Ist das nun gut oder schlecht?
Die Antwort: beides. Denn die Preise für Konsumgüter sind in Volkswirtschaften mit guter Infrastruktur und Logistik meist niedriger als in Ländern, in denen es keine großen Absatzmärkte und Transportketten gibt. Deshalb geben die privaten Haushalte in Rumänien viel mehr, nämlich 6,9 Prozent, ihres Einkommens für Kleidung und Schuhe aus. In der Türkei, größter Bekleidungshersteller Europas und sechstgrößer Baumwollproduzent, sind es 6,4 Prozent. (vgl. statista)

Deutschland ist die größte Volkwirtschaft Europas und Drehkreuz im internationalen Warenhandel. Ist deshalb unser Textilangebot so günstig? Nur zum Teil, denn die Marktpreise spiegeln naturgemäß zum einen den Stellenwert eines Produktes in einer Gesellschaft, zum anderen die nachgefragte Qualität wider.

Meine Schwester heißt Polyester

Über den Wert, den die Deutschen der Mode beimessen, lässt sich trefflich streiten. Aber nicht über die nachgefragte Qualität. Hier gibt es harte Fakten: 55 Prozent der in Deutschland verkauften Textilien bestehen aus billigem Polyester, nur ein Viertel aus Baumwolle, wobei der Anteil an biologisch hergestellter Baumwolle im einstelligen Bereich liegt. (vgl. CIR).

Das bedeutet: Auf dem großen Absatzmarkt Deutschland ist die Kleidung günstig. Billig ist sie, weil die deutschen Konsument*innen es so wollen. Zur Verdeutlichung hilft ein Blick auf eine andere Sparte, nämlich den Lebensmittelkonsum im EU-Vergleich: Nach Deutschland sind die nächstgrößten Volkswirtschaften Frankreich, Italien und Spanien ebenfalls keine kleinen Absatzmärkte. Trotzdem gibt man dort in etwa ein Drittel mehr für Nahrungsmittel aus. Wer im Urlaub dort durch die Supermärkte flaniert, sieht, dass man in diesen Ländern oft auch mehr Auswahl und Qualität bekommt, wenn man bereit ist dafür zu bezahlen. Vielleicht können sich die Menschen in Deutschland das aber gar nicht leisten? Mag sein. Offenkundig ist, dass sie ihre Prioritäten anders setzen. Denn während sie von Jahr für Jahr nur 0,1 Prozent mehr für Kleidung ausgeben, investieren sie jährlich über 6 Prozent mehr in Telefongeräte.

Es ist also vielmehr eine Frage, welche Bedeutung wir Verbraucher*innen bestimmten Bereichen unseres Konsums beimessen. Im Bereich der Lebensmittelindustrie hat die gestiegene Nachfrage nach Bio-Produkten zu einem flächendeckenden Einzug dieser Nahrungsmittel bis in die Discounter-Regale geführt. Im vergangenen Jahr lag der Anteil der Bio-Lebensmittel in Deutschland bereits bei 6,8 Prozent. Der Anteil der Bio-Baumwolle am Weltmarkt stieg zuletzt stark an, liegt aber immer noch nur bei etwa 1 Prozent.

Jedes achte Lebensmittel wird in deutschen Haushalten weggeworfen, also über 12 Prozent. Lebensmittelverschwendung ist ein großes Problem, doch immerhin wird sie öffentlich thematisiert, große und kleine Initiativen kämpfen dagegen an. Textilverschwendung kommt dagegen im öffentlichen Diskurs bislang nicht einmal vor. Dabei werden 20 Prozent der erworbenen Kleidungsstücke nie getragen. Das Potential für einen Sinneswandel zu mehr nachhaltigem Textilkonsum in Deutschland ist also da. Andere umsatzstarke Branchen zeigen, dass Wandel möglich ist und das Heft des Handels in den Händen der Verbraucher*innen liegt.

Die steigende Inflation sowie die teilweise explodierten Logistik- und Rohstoffkosten fordern schon jetzt in der Textilbranche ihren Tribut und führen unweigerlich auch zu höheren Preisen für die Endkund*innen. An ihnen liegt es nun, diese Zäsur zu nutzen, um in dieser Umbruchphase der Modeindustrie ihre Budgets gezielt dazu zu nutzen, um ausgewählter, bewusster und nachhaltiger Kleidung zu kaufen und so zum Wandel beizutragen.



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